in Partnerschaft mit
16.11.2000 * (FJH)
"Achtung, das ist ein Blindentransport!" Mit lauter Stimme zitierte Sabriye Tenberken den Fahrer des kleinen Elektrowagens, der sie durch den Frankfurter Flughafen bugsierte."Dabei kann ich doch sehr gut laufen, nur eben nicht sehen!"
Mit Szenen ihrer Abreise vom Rhein-Main-Airport begann die blinde Entwicklungshelferin am Mittwoch (15. November) in der Stadtbücherei Marburg die Lesung aus ihrem Buch "Mein Weg führt nach Tibet".
Mit einem so riesigen Andrang hatten die Veranstalter allerdings nicht gerechnet: Bis ins Treppenhaus hinein drängten sich die gut 150 Besucher, die der ehemaligen
BliStA-Schülerin zuhören wollten. Sie sorgte dann auch gleich für Heiterkeit beim Publikum, als sie den Andrang kommentierte: "Ich bin völlig überrascht, wie voll das hier ist. Ich war ja froh, dass ich hier selber überhaupt reingekommen bin."
Immer wieder erntete Sabriye Tenberken Gelächter, wenn sie anschließend vom Umgang der Mitmenschen mit ihrer Blindheit berichtete. Im rheinischen Dialekt zitierte die 30-jährige die Reaktion eines Bonner Mitbürgers auf ihres weißen Langstock: "Is dat enn Minensuchjerät?"
Zu den Erfahrungen, die jeder Blinde tagtäglich machen kann, gesellen sich bei ihr allerdings noch die befremdeten Reaktionen auf eine allein reisende junge blinde Frau in exotischer Ferne. Hinzu kam die Schwierigkeit, in Peking ohne Kenntnis der dortigen Ernährungsgewohnheiten ein Essen zu bestellen. Andere Touristen zeigen dann einfach auf die Kochtöpfe.
Von Peking aus führte Tenberken ihre Zuhörerschaft dann nach Lhasa, wo sie die erste Blindenschule Tibets aufgebaut hat. Schon während ihres Tibetologiestudiums in Bonn hatte sie eine Braille-Umsetzung der tibetischen Schrift entwickelt. 17 blinde Kinder haben diese Tastschrift inzwischen schon von ihr erlernt.
Begonnen hatte sie ihre Aktion mit einem Rundritt durch die Dörfer im tibetischen Hochland, wo sie nach blinden Kindern für ihre Schule suchte. Dabei war sie auf unglaubliche Verhältnisse gestoßen: Aus Unkenntnis und Scham vor der Blindheit ihrer Kinder hatten Eltern ihre Sprößlinge jahrelang in dunklen Räumen eingesperrt oder sogar ans Bett gefesselt!
Dem in Tibet weit verbreiteten Stigma, Blindheit sei eine Strafe für Verfehlungen in einem früheren Leben, setzt die Schule in Lhasa den systematischen Aufbau eines selbstbewußten Auftretens der blinden Kinder entgegen. Mit Erfolg: Als einer ihrer Schüler von einem Bauern auf der Straße als "blinder Tölpel" tituliert wurde, entgegnete der Kleine "Kannst Du etwa lesen? Hast Du eine Schule besucht? Und findest Du bei Nacht ohne Licht Dein Bett?"
Immer wieder betonte Tenberken, dass sie ihr Engagement nicht aus Mitleid leiste, sondern aus Abenteuerlust und zur eigenen Selbstverwirklichung. Die Schule in der tibetischen Hauptstadt will sie in wenigen Jahren an die einheimischen Mitarbeiter übergeben. Dann - so meinte sie - könnte sie sich andere Projekte ähnlichen Zuschnitts in Asien oder vielleicht sogar in Lateinamerika vorstellen.
Vorerst steht freilich noch der Ausbau der Schule an. Dafür sammelt die Pädagogin Spenden. Ihr Publikum fesselte sie mehr als zwei Stunden lang mit lockeren Erzählungen und Passagen aus ihrem Buch, die sie - fast auswendig - von Brailleschrift abfingerte. Ihr Dank an die eigenen Lehrer in Marburg fiel dabei zur Erheiterung der Zuhörer auch originell aus: "An der BliStA habe ich gelernt, wie man als Blinde pfuscht. Und das brauche ich jetzt, um meine Schüler am Mogeln zu hindern." Denjenigen, den sie erwischt hat, hat sie allerdings nicht bestraft, denn "als Blinder gekonnt Pfuschen ist auch eine Leistung".
Sabriye Tenberken,
Mein Weg führt nach Tibet
Die blinden Kinder von Lhasa
38,00 DM
2000, Verlag KIEPENHEUER & WITSCH
ISBN: 3462029363
10.11.2000 * (fjh)
"Für uns ist es selbstverständlich, dass wir nach den Bedürfnissen der Bürgerinnen und Bürger planen und bauen", erklärte Baudirektor Jürgen Rausch am Freitag (10. November) bei der Vorstellung eines neuen Projektes für Behinderte. Gemeinsam mit dem Fachbereich Geografie der
Philipps-Universität
plant die
Stadt Marburg
die Herausgabe eines speziellen Stadtplans für Behinderte. Das ehrgeizige Projekt erläuterten
Franz-Josef Visse
als Vorsitzender des Behindertenbeirats und Stadträtin
Ulrike Kober
gemeinsam mit anderen Projektbeteiligten am Freitagnachmittag im Bauamt.
1998 hatte der ein Jahr zuvor auf Initiative von Marburger Behinderten eingerichtete Behindertenbeirat vorgeschlagen, einen Stadtplan mit Hinweisen zur Zugänglichkeit von Wegen und öffentlichen Einrichtungen für mobilitäts- und sinnesbehinderte Bürger zu erstellen. Jo Visse wandte sich an die Universität mit der Bitte um Unterstützung, wo diese Idee sofort auf große Zustimmung stieß. Kanzler
Bernnd Höhmann
begründete die Bereitschaft, das Projekt sogar mit eigenen Personalmitteln zu unterstützen, durch die große Zahl behinderter Studierender in Marburg: "Wir haben hier mehr behinderte Studenten als jede andere deutsche Uni."
Für Prof. Alfred Pletsch war die Übertragung der in seinem Fachbereich gewonnenen Informationen aus einem allgemeinen Stadtplan in eine spezielle Behindertenversion interessantes Neuland. Neben zwei im Projekt beschäftigten Mitarbeitern gewann er 12 Studierende hinzu, die die Datenerhebung im Rahmen eines Oberseminars vornahmen. Um die Zugänglichkeitskriterien systematisch erfassen zu können, erhielten sie eine Schulung des Projekts "KOMM" (Kommunikations- und Orientierungshilfen für mobilitätsbehinderte Menschen) in Münster und "DIAS" (Daten- und Informationssysteme für analytische Sozialforschung) in Hamburg.
Die so geschulten Kartografen erfassten nicht nur Steigungen von mehr als 3 %, sondern auch Durchgangsbreiten, Stufen und andere Barrieren. Selbst Signaltöne an Ampeln oder die Existenz von Mittelinseln auf der Fahrbahn sollen im Plan durch Piktogramme angezeigt werden. Auf diese Weise wird der Weg zu öffentlichen Gebäuden und in sie hinein bis zu den publikumsrelevanten Ansprechstellen verfolgt.
Erhoben wurden bislang aber nur Gebäude der Stadt, der Uni und Bauten von besonderem Interesse wie Museen oder Kirchen. Völlig ausgeklammert hat man den gesamten Bereich der Gastronomie und Hotellerie, der einen Stadtplan gerade für auswärtige Besucher attraktiv machen könnte. Hier wird aber noch über eine Zusammenarbeit mit der Marburg Tourismus- und Marketing GmbH (MTM) nachgedacht.
Veröffentlicht werden soll der Stadtführer, der eine gigantische Menge an Einzelinformationen aufbereitet, anschließend in gedruckter Form als Ringbuch und im Internet.
Hier greift man auf die hervorragenden Erfahrungen von KOMM in Münster zurück, das sein Knowhow inzwischen schon an andere deutsche und sogar ausländische Städte weitervermittelt hat. Das Internet läßt eine ständige Aktualisierung und Korrektur der Informationen zu, die in Münster den Grundstock des offiziellen Stadtplans im Web darstellen. Ihn kann der User sogar mit einer Lupe online vergrößern und sich die gewünschte Gegend so groß auf den Bildschirm seines Rechners zoomen, bis er alle gewünschten Einzelheiten erkennen kann.
Klickt er das angseteuerte Bauwerk anschließend an, so erhält er die dazu erhobenen Zugänglichkeitsinformationen aus einer Datenbank, die DIAS ausgearbeitet und programmiert hat. Studierende der Westfälischen Wilhelms-Universität haben inzwischen mehr als 300 Bauwerke erfasst, darunter auch Gaststätten, Hotels und Freizeiteinrichtungen.
Nach demselben Prinzip soll demnächst auch Marburg seine Behindertenfreundlichkeit im Web präsentieren. Damit wäre der neue Stadtplan mehr als einer der 160 Stadtführer für Behinderte, die deutsche Kommunen derzeit aufgelegt haben. Diese Vorreiterstellung ist man seinem Ruf als Zentrum der Behinderten aber auch schuldig.
04.11.2000 * (FJH)
Mit so viel Andrang hatte Kersten Kauer nicht gerechnet, als er zu "Tagen der Offenen Tür" in die neuen Räume des Blinden-Hilfsmittelherstellers
Frank Audiodata
an der Elisabethkirche einlud. Doch der Andrang der blinden und sehbehinderten Computer-Interessenten war am Freitag (3. November) und Samstag (4. November) so groß, dass die Besucher mitunter durchaus mehr als eine halbe Stunde warten mussten, ehe sie Platz vor einem der mit Sprachausgabe und
Braillezeile
ausgestatteten Rechner nehmen konnten.
Versüßt wurde die Wartezeit durch belegte Brötchen, Buletten, Kekse, Kaffe und Saft. Gekommen waren die Besucher freilich, um sich die neuesten Versionen von "Blindows" - einer Übertragungs-Software für "MS Windows" auf einen reinen Textmodus zur Ausgabe durch den Sprachsynthesizer oder die Brailleschriftmodule - Sowie die neue "E-Lupe" zur Vergrößerung von Texten und Bildern für hochgradig Sehbehinderte anzusehen.
"Ansehen" dieses Wort benutzen die Blinden selbst für Befingern und in der Praxis ausprobieren. Wer lange genug gewartet hatte, der erhielt dazu dann reichlich Gelegenheit.
Ein weiterer Anlass für die "Tage der Offenen Tür" war der Umzug der Filiale von der Ockershäuser Allee in die Elisabethstraße. In dem Haus gleich neben der Elisabethkirche, wo früher die Konditorei "Fritz" untergebracht war, residiert die Computerfirma nun im ersten Obergeschoss über einer Filiale der Kondidtorei "Sanetra".
Fast ein Jahr lang hatte das Gebäude nach dem Konkurs seines vorherigen Nutzers leer gestanden; Verkaufsverhandlungen mit der Evangelischen Kirche und der Stadt über eine Nutzung für touristische und soziale Zwecke zogen sich aber so sehr in die Länge, dass die Eigentümer das Haus schließlich vermieteten. Nutznießer dieser Entscheidung ist nun der in Oberhausen-Rheinhausen bei Karlsruhe beheimatete Hilfsmittelhersteller, der 1982 den ersten sprechenden Computer für Blinde entwickelt hat.
15.10.2000 *
Gut gelesen: Aktion zum "Tag des weißen Stocks"
Soziales
©
16.11.2000 by
fjh-Journalistenbüro, D-35037 Marburg
e-Mail:
redaktion@marburgnews.de