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Soziales


Armutsrisiko Kinder: Sozialhilfe für Alleinerziehende


25.05.2001 * (
sap)
Jedes siebte Marburger Vorschulkind und jeder zehnte Jugendliche lebt in Marburg von Sozialhilfe. Kinder zu bekommen ist auch in Marburg ein Armutsrisiko. Satistisch lebte hier 1999 jede 13. Person zumindest zeitweise von Sozialhilfe.
Ein Viertel aller Sozialhilfeempfänger lebt getrennt oder geschieden. 80% von ihnen sind weiblich. Zwar sind die meisten der Sozialhilfebeziehenden Singlehaushalte, doch die zweithäufigste Haushaltsstruktur ist die der Alleinerziehenden. Zwei drittel aller Kinder in der Sozialhilfe werden von Alleinerziehenden versorgt - zu 90 Prozent sind das Frauen.
Gerade in Marburg ist ein deutlicher Unterschied zwischen den Stadtteilen erkennbar. Während am Stadtwald mehr als ein Fünftel der dort Lebenden Ende '99 Sozialhilfe bezog, sind es im Südviertel nur 1,9 Prozent. Stadtwald, Waldtal, unterer und oberer Richtsberg sind die Stadtteile mit der höchsten Sozialhilfedichte.
Sybille S. (Name geändert) ist 34 Jahre alt. Sie hat einen 15-jährigen Sohn und eine 4-jährige Tochter. Sie lebt am Richtsberg und bezieht Sozialhilfe. Sie hat ihr Leben mit den zwei Kindern trotz vieler Hürden organisiert; viele Kämpfe hat sie schon mit deutschen Behörden hinter sich, wenn es darum ging, sich und ihre Kinder durchzubringen.
Während und nach ihrer ersten Schwangerschaft ist sie 10 Jahre lang berufstätig und wird kurz vor Antritt einer Führungsposition erneut schwanger. Es wird ihr zunehmend unmöglich, mit ihrem Freund zusammenzuleben. Sie verlässt ihn, doch er behält als Druckmittel die Wohnung, Möbel und andere Sachen.
"Er dachte, ich würde zu ihm zurückkommen, wenn ich ohne etwas dastehe", vermutet Sybille.
Damals wohnte sie noch in Gießen. Nachdem ihre Tochter zur Welt kommt, kann sie nicht mehr in der kleinen Wohnung mit ihren Eltern leben, die ihr vorübergehend Unterschlupf bieten. Sie wendet sich an das Sozialamt. Angeboten wird ihr, in einem schmuddeligen Hotel für Obdachlose in der Bahnhofsgegend zu wohnen. Mit Verweis auf ihre Säuglingstochter wird ihr nach wie vor verweigert, eine Wohnung bezuschusst zu bekommen, obwohl diese billiger geworden wäre als das Hotel.
Sie steht 100%ig in Abhängkeit von den Behörden.
"Ich bin nicht jemand, der hingeht und heult. Ich sage klar: so und so ist es. Man ist in solch einer Situation angewiesen auf die Gutmütigkeit eines Sachbearbeiters", erklärt sie
rückblickend. 20 kg nimmt die schlanke Mutter in dieser Zeit ab - nicht etwa durch den Stress mit ihrem Ex-Freund, sondern durch den Stress mit dem Sozialamt. Sie ist froh, von dem Mann losgekommen zu sein, und sagt dennoch:
"Ich kann Frauen verstehen, die zurückgehen zu ihren Männern, obwohl sie derb behandelt werden, denn dort sind sie wenigstens versorgt."
Ebenfalls an bürokratischer Borniertheit scheiterten ihre Bemühungen, während der zweiten Schwangerschaft eine Ausbildung zu machen. "Mit dieser Ausbildung hätte ich viel bessere Möglichkeiten gehabt, später wieder ins Berufsleben einzusteigen," meint sie. Doch als sie beantragt, dass der Freibetrag, den sie verdienen darf, von 120 DM auf 320 DM erhöht wird, damit sie sich das Schulgeld, das die Ausbildung kostet, erarbeiten kann, wird ihr dies verweigert.
Heute kommt sie damit zurecht, dass sie von Sozialhilfe lebt, doch hat es lange gebraucht, bis ihre Familie und sie dies akzeptieren konnten. Keine Akzeptanz kommt ihr aus der Bevölkerung entgegen. Wenn sie oder Freundinnen mit mehreren Kindern in einen Bus steigen, bekommen sie Sprüche wie "guck mal, die kriegt Kinder, damit sie nicht arbeiten muss und kassiert das Kindergeld" zu hören.
Von kassieren kann keine Rede sein. Die 34-jährige kann ihrem Sohn keine teuren Hobbies oder Nachhilfe finanzieren, auch mit Kleidung wird sehr gespart. Bevor Geld ausgegeben wird, muss genau nachgerechnet werden, "man kann mit Sozialhilfe keine spontanen Entscheidungen treffen", sagt sie und bemängelt gleichzeitig, dass es gar nicht möglich ist, von dem wenigen Geld etwas für besondere Ausgaben zu sparen. Wenn die Sozialhilfe mehr als sieben Tage auf dem Konto ist, wird sie wieder eingezogen mit der Begründung, sie brauche das Geld ja offensichtlich nicht.
Die alleinerziehende Mutter, die nun seit zwei Jahren am Richtsberg lebt, ärgert sich allgemein, dass Kindererziehung nicht als Arbeit anerkannt wird. Frauen, die Kinder großziehen und Sozialhilfe empfangen, werden nach ihrer Beobachtung oft in die "Ach, die will ja gar nicht arbeiten!"-Ecke gedrängt. Mit der Situation am Richtsberg ist sie insgesamt zufrieden. Sie besucht regelmäßig den "Treffpunkt Richtsberg", der eine Anlaufstelle für viele Frauen ist und auch von vielen - vor allem ausländischen Frauen - genutzt wird. Die gelernte Bürokauffrau arbeitet heute neben der Erziehung ihrer eigenen Kinder in der Kinderbetreuung im Treffpunkt.
Insgesamt wünscht sich die Marburger Sozialhilfeempfängerin, dass Sozialamt, Jugendamt und Arbeitsamt sich mehr vernetzen und nicht für jede Einrichtung zig Formulare ausgefüllt werden müssen.
"Frauen, die eine Ausbildung machen wollen, brauchen mehr Utnerstützung", fordert sie ausserdem, "es muss den Frauen ein bisschen leichter gemacht werden."
Mit der Höhe der Sozialleistungen ist sie nicht zufrieden,
"unter der Pfändungsgrenze" seien ihre Bezüge. Doch eines stört sie besonders:
"Es wird immer auf die Frauen geschoben, statt mal auf die Männer zu gucken, die den Unterhalt nicht zahlen. Würden die beiden Väter meiner Kinder ihren Unterhalt zahlen, müsste ich keine Sozialhilfe beziehen."


Trommeln: Behindert ißt man nicht...


05.05.2001 * (
FJH)
Sie trommeln für ein Gleichstellungsgesetz. Um 5 vor 12 setzt sich der Zug in Bewegung. Viele sitzen im Rollstuhl, manche laufen an Krücken oder tasten sich mit einem Blindenstock vorwärts. Beim "Europäischen Protesstag zur Gleichstellung Behinderter" am 5. Mai finden bundesweit Demonstrationen für ein Gleichstellungsgesetz statt. Etwa 60 - überwiegend behinderte - Demonstrantinnen und Demonstranten sind am Samstagmittag auf den Heumarkt gekommen und ziehen von dort aus hinter den Trommeln her.
"Niemand darf wegen seiner Behinderung benachteiligt werden" zitiert das Schild einer Rollstuhlfahrerin den Grundgesetzartikel 3. Das geforderte Gleichstellungsgesetz soll dieses Diskriminierungsverbot im Alltag durchsetzen. Dafür hauen die Trommler kräftig auf die Pauke.
Über den überfüllten Marktplatz, wo Marburg gerade 40 Jahre Städtepartnerschaft mit dem französischen Poitiers feiert, bewegt sich die Demonstration langsam durch die Oberstadt. Die Wettergass hinunter und um die Alte Universität herum geht es zum Rudolphsplatz.
Vor dem Sorat-Hotel werden die Trommeln schneller und lauter. In der Sorat-Passage befindet sich das "Tabasco". Ihm gilt der Protest. "Behindert ißt man nicht, denn hier behindert der Wirt" könnte man das Motto der Aktion Grundgesetz abwandeln. "Es gibt zwei Zugänge zu diesem Restaurant", erklärt Peter Günter, Geschäftsführer des Paritätischen Wohlfahrtsverbands (DPWV) Marburg-Bidenkopf, "Der geöffnete Zugang führt über Stufen, vor dem barrierefreien Zugang steht ein Tisch. Der Wirt ist nicht bereit, den Zugang über die Rampe für Behinderte zu öffnen."
Das Trommelfeuer ebbt ab, zwischen Cineplex und Kunsthalle hindurch bewegt sich die Demonstration weiter zum Lahnufer, wo die Deutsche Lebensrettungs-Gesellschaft (DLRG) auf den Lahnwiesen ihr 50-jähriges Bestehen feiert. Dort löst sich der Zug auf.
Es bleibt die alltägliche Benachteiligung Behinderter: Versicherungsgesellschaften schließen Menschen mit geistiger Behinderung vom Versicherungsschutz aus, Stufen bilden unüberwindliche Barrieren für Rollstühle, Internetseiten grenzen Blinde durch nicht erklärte Grafiken aus. Das Motto der Aktion Grundgesetz heißt deswegen richtig: "Behindert ist man nicht, behindert wird man."


15.03.2001 * Die Abschaffung der Armut: Grundsicherung für Frauen


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