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Text von Samstag, 14. April 2007

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 Martenstein: Süffisante Texte im TTZ 
 Marburg * (jnl)
War die deutsche Nachkriegsära doch nicht so sexfeindlich, grau und vom Wiederaufbau besessen, wie das Klischee behauptet? Diese Vorstellung widerlegt Harald Martenstein in seinem Debüt-Roman "Heimweg". Der Berliner Publizist war am Freitag (13. April) auf Lesereise im Technologie- und Tagungszentrum (TTZ) zu Gast.
Rund hundert zahlende Besucher waren der Einladung des Vereins "Kulturelle Aktion - Strömungen" gefolgt. Als erfolgreicher Kolumnist der Wochenzeitung Die Zeit konnte Martenstein offenbar eine große Fangemeinde mobilisieren. In seinem Buch befasst er sich auf unterhaltsame Weise mit den privaten Nischen-Existenzen der Adenauer-Epoche.
Der Roman ist eine tragikomische Familiengeschichte in Episoden. Er hält sich abseits der genretypischen Chronologie und Untiefen. Geschrieben ist er aus der Ich-Perspektive des fiktiven Enkels eines kinderlosen Ehepaars jener Kriegsheimkehrer-Generation.
Die Hauptpersonen, Josef und Katharina, erweisen sich als ausgemachte Lebenskünstler der Erotik und des Durchwurstelns. Der Autor charakterisiert alle seine Figuren leicht satirisch und zugleich voller Sympathie.
Jedes Kapitel schildert eine Episode der existenziellen Alltagskonflikte. So entsteht ein ungewohnt farbiges, lebenszugewandtes Bild jener Wiederaufbau- und Restaurations-Epoche.
Das gelingt, weil der Autor abseits des grauen Mehrheitsgeschicks rheinische Frohnaturen als ausgesprochene Paradiesvögel des Alltags beschreibt. Dabei verfängt weder die Klischee-Erwartung heiler Welt noch die von belangloser Komik. Denn Martenstein hat einen doppelten Boden aus Surrealität eingezogen
Die Konflikte, mit denen seine Figuren kämpfen sind zeittypisch alltäglich, aber nicht banal. Wie reagiert etwa eine Ehefrau auf den plötzlich auftauchenden Russland-Heimkehrer, wo sie doch längst andere Liebhaber hat? Wie verarbeitet eine andere Ehefrau, dass ihr Mann in einem Anfall von Dementia praecox den gemeinsamen Sohn umbringt? Nimmt sie ihn wieder zuhause auf, wenn er als geheilt aus der Irrenanstalt entlassen wird?
Der Subtext dieses in sehr süffiger Sprache geschriebenen Roman hat es in sich. Es gibt einiges zu entdecken. Dieser Romanerstling ist eine Parabel über das Fortleben der Vergangenheit. Wahn und Wirklichkeit der Wirtschaftswunderzeit tischt der Autor auf in einer pikanten, wohlschmeckenden Melange.
Der Kontakt zum Live-Publikum gelang Harald Martenstein mit dem verblüffenden Eingeständnis, er habe sich in Marburg verlaufen. Während er aus vier sehr unterschiedlichen Kapiteln las, erzielten seine Wortwahl und witzigen Szenen immer wieder Lacher. Der hochgewachsene 53-Jährige mit gepflegter schulterlanger Haartracht machte einen verschmitzten und souveränen Eindruck. Den Fragen des Publikums begegnete er nachdenklich und eingehend.
Martenstein verwies darauf, dass seine Romanfiguren als Generationenvertreter für verschiedene Spielarten der Liebesverhältnisse stehen. Genau besehen, sagte er, habe er nach zwei Sachbüchern über Zeitgeist und Erotik in der Adenauerära nun einen Roman zum gleichen Thema vorgelegt.
Als Angehöriger der 1968er-Generation beschäftige ihn der lebhafte Widerspruch zwischen dem Erschrecken über die Nazi-Mitläufer-Generation bei gleichzeitiger persönlicher Sympathie für viele ihrer individuellen Vertreter. Sein Buch ist demnach eine Erkundung der Facetten damaliger Existenzformen des Alltagslebens. Der Autor leuchtet mit trockenem Humor und Phantasie die Zwischenräume aus. Martenstein bekennt sich roman-architektonisch zu einem harten Gegeneinander-Schneiden von Tragik und Komik.
Auf besonderen Wunsch der zahlreich anwesenden "Zeit"-Fans las Martenstein zum Abschluss noch ein paar Kabinettstückchen aus seinen 2004 als Buch erschienenen Gesammelten Kolumnen. Diese tragikomischen Alltagskonflikte in Glossen-Form riefen beim Publikum frenetischen "da capo"-Beifall hervor. Seine Themen, von der Klage eines Vaters über den superteuren Marken-Fetischismus des Sprösslings bis zum Verschwinden der Zwiebeltöpfchen, treffen offenkundig einen Nerv. Viel trägt dazu die die süffisante Diktion bei.
 
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