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Text von Dienstag, 1. Mai 2007

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 Keine Freizeit: Geschehen Selbstmorde sonntags? 
 Marburg * (mjb)
Ein junges Paar und ein gemeinsamer freier Sonntag im Bett: Was so entspannt und romantisch klingt, entpuppte sich am Mittwoch (9. Mai) in dem Stück "Die meisten Selbstmorde geschehen Sonntags" als Albtraum.
Das Theaterstück der polnischen Autorin Anna Burzynska brachte das Theater Gegenstand als deutschsprachige Erstaufführung auf die Bühne der Waggonhalle. Unter der Regie von Franziska Lüdtke spielten Michael Klemm und Inga Berlin.
Die Inszenierung begann mit gedämpfter Musik und den Stimmen der Hauptpersonen Klara und Nik, die vom Band ihres Anrufbeantworters zu hören waren. Nur durch das Hören der gehetzten Stimmen wurde man sofort mit der Welt des Paares vertraut: Zwei Menschen, die nur für ihren Job leben und die wegen der ständigen Meetings, Konferenzen und Geschäftsessen kein Privatleben mehr haben! Die Kommunikation schien nur über den Anrufbeantworter möglich zu sein und nur aus Mitteilungen zu bestehen, dass man doch erst später oder vielleicht sogar überhaupt nicht nach hause komme.
Diese hektische Betriebsamkeit wurde dann auch auf der Bühne sichtbar. Nach dem Klingeln des Weckers begann ein ganz alltäglicher Morgen im Leben von Klara und Nik: Zuerst stellte Nik fest, dass noch genau zwei Minuten und dreißig Sekunden für Sex blieben. Danach hektisches Duschen, anziehen und Sich-auf-einen-harten-Arbeitstag-Vorbereiten.
Doch dann folgte die für das Paar folgenschwere Feststellung, dass die beiden an diesem Sonntag nicht arbeiten mussten. Das hektische Alltagstreiben schlug in Ratlosigkeit um: Was sollte man anfangen mit der gemeinsamen freien Zeit? Miteinander reden oder fernsehen? Ein Spiel spielen oder Musik hören?
Diese für das Paar höchst ungewohnte Situation sorgte für eine immer gereiztere Stimmung, bis Klara
endlich mit der Wahrheit herausrückte: Sie hatte vor drei Monaten ihren Job verloren und Nik aus Scham davon nichts erzählt und ihm sogar weiterhin ihren üblichen Arbeitsalltag vorgespielt.
Nach dieser Enthüllung brach die Welt des erfolgreichen Paares zusammen wie ein Kartenhaus. Klara und Nik mussten feststellen, dass sie - abgesehen von ihrem beruflichen Status - nichts voneinander wussten. Erst jetzt erzählten sie sich, welche Torturen sie auf dem Weg nach oben auf sich nehmen mussten und wie viel Selbstaufgabe der harte Job ihnen abverlangt hatte.
Die Bühne wurde zum größten Teil von einem großen Bett ausgefüllt. Der Gegensatz zum üblichen Arbeitsalltag wurde schon dadurch deutlich sichtbar, dass sich die Handlung des gesamten Stückes in diesem Bett oder in unmittelbarer Nähe des Bettes abspielte. Dieser enge Spielraum ließ sehr viel Platz für die Dialoge und machte es möglich, die Charaktere und die Beziehung des Paares in den Vordergrund zu rücken.
Das das so hervorragend gelungen ist, lag vor allem an der großartigen schauspielerischen Leistung von Michael Klemm und Inga Berlin. Sie verstanden es, sowohl die vielen komischen Momente als auch die tiefe Tragik der Situation überzeugend und eindringlich zu vermitteln.
Sehr unterhaltsam und komisch war eine Szene, in der das Paar mit nur einem einzigen Stuhl "Die Reise nach Jerusalem" spielte, um sich die Zeit zu vertreiben. Einer der sehr tragischen Höhepunkte der Aufführung war Klaras Bericht über ihre Therapie, die ihr von ihrer Firma nach ihrer Entlassung finanziert wurde, um ihr das Ausscheiden aus ihrem Job zu erleichtern und sie für eine weitere erfolgreiche Karriere fit zu machen.
Inga Berlins sehr emotionales und extravertiertes Spiel machte fast schmerzhaft die menschenverachtende Denkweise von Managern und Betriebs-Psychologen bewusst, die Menschen nur über ihre Arbeitskraft und ihre Potenziale für das Unternehmen definieren.
Nach und nach wurde die hohle Welt von Klara und Nik entlarvt, die sich hinter dem perfekten Bild eines erfolgreichen Paares und hinter Status-Symbolen wie einer luxuriösen Wohnung, teuren Autos und extravaganten Reisen versteckt hatte. Ohne diesen äußeren Schein nur noch auf sich selbst gestellt, blieb nichts mehr übrig, als über einen gemeinsamen Selbstmord nachzudenken.
Das in Warschau spielende Stück porträtiert zwar insbesondere die junge aufstrebende Generation Polens. Allerdings ist das Thema nicht nur in Polen hochaktuell. Die totale Identifikation mit dem Arbeitsplatz und vor allem die Bereitschaft, sich für den Job bis zum äußersten aufzuopfern, dürfte auch der jungen Generation in Deutschland vertraut sein. Die Reaktionen des Publikums ließen jedenfalls erahnen, dass sich so mancher mit den Problemen von Klara und Nik identifizieren konnte.
Besonders bei den tragischen Momenten herrschte oft betroffenes Schweigen im Publikum. Gerade der Kontrast zwischen den vielen komischen Momenten und den sehr bewegenden Szenen machte "Die meisten Selbstmorde geschehen Sonntags" zu einer außerordentlich gelungenen Aufführung.
Die Inszenierung hat es geschafft, ein brisantes Thema unterhaltsam und in keiner Weise oberflächlich zu behandeln. Der begeisterte Applaus nach knapp zwei Stunden war hochverdient.
 
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