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Soziales


"Ein Antifaschist war er jedenfalls nicht."


03.06.2000 * (
FJH)
Die Vereinsgeschichte und die Rolle seines langjährigen Vorsitzenden Carl Strehl während der Nazi-Zeit waren neben Vorstandswahlen Hauptthema der Mitgliederversammlung des Deutschen Vereins der Blinden und Sehbehinderten in Studium und Beruf e.V. (DVBS) am heutigen Samstag (3. Juni) im Bürgerhaus Cappel. Alle zwei Jahre lädt der in der Frauenbergstraße ansässige Verein seine gut 1.300 blinden und sehbehinderten Mitglieder aus der gesamten Bundesrepublik für ein verlängertes Wochenende nach Marburg ein, um ihnen bei Treffen seiner elf Berufsfachgruppen und seiner themenbezogenen Arbeitskreise sowie der für den Folgetag anberaumten Mitgliederversammlung die Möglichkeit zum Meinungs- und Erfahrungsaustausch zu eröffnen.
Seit 20 Jahren betreibt der DVBS nun bereits den Auflesedienst für wissenschaftliche Literatur (ADW). Rund 5.500 Buchtitel sowie zahlreiche Zeitschriften und Vorlesungs-Scripten wurden seit 1980 auf Cassette aufgesprochen und an DVBs-Mitglieder versandt. Nun steht eine Digitalisierung der Auflesetechnik an, damit blinde Studierende und Berufstätige auch in Zukunft ohne größeren Zeitverzug die individuell benötigte Literatur erhalten können.
Neu in den fünfköpfigen DVBS-Vorstand gewählt wurde der Hamburger Soziologe Carsten Warnke, der sich schwerpunktmäßig mit den Zugangsmöglichkeiten Blinder und Sehbehinderter zum Internet befassen möchte. Im Amt bestätigt wurden der Marburger Richter Dr. Otto Hauck als Vorsitzender, sein Stellvertreter Uwe Boysen - ebenfalls Richter in Bremen - und die Rehabilitationslehrerin Rita Schwöhrer aus Stuttgart sowie der Blindenlehrer Hans-Peter Brass aus Berlin ALS Beisitzer . Mit minutenlangem Beifall verabschiedeten die 101 anwesenden Mitglieder die Erzieherin Sigrid Angermann, die wegen starker beruflicher Belastung nach zwölf Jahren Vorstandsarbeit auf eigenen Wunsch aus dem Amt ausschied.
Am Nachmittag stellten der Marburger Politikprofessor Reinhard Kühnl und sein Doktorand Mohammad Reza Malmanesh die Ergebnisse einer historischen Untersuchung zur Rolle des Vereins zwischen 1933 und 1945 vor. 1992 hhatte der DVBS auf seiner Mitgliederversammlung eine Entschuldigung gegenüber jüdischen Vereinsmitgliedern verabschiedet, die zwischen 1933 und 1945 aus dem VBAD ausgeschlossen worden waren. Nach dem Buch "Blinde unterm Hakenkreuz", das der DVBS seit Jahren für 15 DM in Schwarzdruck und als Toncassette anbietet, wurde seinerzeit auch der Wunsch nach einer umfassenden Aufarbeitung der Vereinsgeschichte deutlich. Prof. Reinhard Kühnl übernahm diese Aufgabe als ein Thema für eine historische Dissertation.
Fünf Jahre lang hat Mohammad Reza Malmanesh alte Protokolle, Jahresberichte und Briefwechsel des damaligen "Vereins der blinden Akademiker Deutschlands" (VBAD) gewälzt und Zeitzeugen befragt, um Klarheit über die historischen Fakten zu gewinnen. Die Akten sind jedoch unvollständig und wurden vermutlich teilweise gezielt vernichtet. Im Archiv der Deutschen Blindenstudienanstalt (BliStA) lagern zudem immer noch stark verstaubte Kartons mit Akten, die wegen ihres schlechten Zustandes bislang noch nicht gesichtet werden konnten.
Die Verflechtung des VBAD und der BliStA durch die Doppelfunktion Strehls als Vereinsvorsitzender und Anstaltsdirektor legte eine gemeinsame Betrachtung beider Einrichtungen nahe. Malmaneshe hat ihr die Lebensläufe des 1986 in Berlin geborenen und 1971 in Marburg verstorbenen Philologen und Pädagogen Prof. Carl Strehl und seines ursprünglichen Förderers und BliStA-Mitbegründers, des jüdischen Augenarztes Prof. Alfred Bielschowsky beiseitegestellt.
Schon 1933 wurde Bielschowskis systematische Ausgrenzung aus dem VBAD eingeleitet, dessen Vorsitzender er damals noch war. Strehl - bis dahin Vereinsgeschäftsführer - übernahm mit dem Anschluß des VBAD an die nationalsozialistische Wohlfahrtsorganisation den Vereinsvorsitz. Seine Mitgliedschaft in einer - den Nazis kritisch gegenüberstehenden - Freimaurerloge kündigte er auf.
Zeugnisse einer Verstrickung Strehls in die NS-Diktatur sind nicht zu finden, wohll aber Anzeichen eilfertiger Anpassung. Inwieweit diese Aktionen notwendig waren oder in der Vorstellung geschahen, damit "Schlimmeres zu verhindern", bleibt Gegenstand von Spekulationen. Immerhin lud Strehl den Bildungsverantwortlichen der NSDAP im Gau Marburg zu einem 20-minütigen Vortrag über die "Ziele der nationalsozialistischen Bewegung" ein und ließ ein Lobgedicht auf den "Führer" drucken, was vermutlich häten nicht machen müssen. Kein anderes Archiv - so Malmanesh - enthalte so viel Nazi-Literatur wie das AIDOS-Archiv der BliStA, was man heute noch in dessen Katalog feststellen könne. Auch hier stelle sich die Frage, ob es denn notwendig war, so viele faschistische Bücher in die Brailleschrift zu übertragen.
Für uns heute sei es unmöglich, über die Mitläufer zu richten und zu wissen, wie wir selbst unter solchen Umsänden gehandelt hätten, erklärte Kühnl. Dem Historiker gehe es vielmehr darum, aus der Vergangenheit Lehren für die Zukunft zu ziehen.
Strehl hingegen äußerte sich nach Kriegsende nur zweimal zu seiner Verstrickung: In zwei Brifen an die zuständige Entnazifizierungskammer bezeichnete er sich trotz seiner SS-Mitgliedschaft als "unbelastet", als "lieberalen Demokraten", als "Vorkämpfer für Frieden und Völkerverständigung" und sogar als "Antifaschisten".
Zunächst stufte ihn die Kammer auf dieses SChreiben hin als "belastet" ein; nachdem er auf diesen Spruch hin aber wortgleich denselben Text noch einmal an die Kammer schickte, stufte sie ihn nunmehr als "unbelastett" ein.
Nach fünfjährigem Aktenstudium und zahlreichen Gesprächen mit Zeitzeugen kam Malmanesh zum Ende seines Referats auf Nachfrage zu einer zusammenfassenden Einschätzung des Wirkens von Carl Strehl in der Nazi-Zeit: "Ein Antifaschist war er jedenfalls nicht."


05.05.2000 * Europäischer Protesttag


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