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31.05.2001 * (FJH)
Sein Doktorvater war Edward Teller, der Erfinder der Wasserstoffbombe. Habilitiert hat er sich bei dem Physiker Werner Heisenberg. Der damalige deutsche Atom-Minister Franz-Josef Strauß reiste 1956 nach Berkley, um ihn nach Deutschland zurückzuholen. Ein Jahr lang war er Geschäftsführer von Greenpeace. 1987 brachte ihm sein Engagement für die Vernetzung von Friedensgruppen in Ost und West den Alternativen Nobelpreis ein. Am Mittwochabend (30. Mai) warf Prof. Hans-Peter Dürr vor knapp 300 Interessierten im Hörsaalgebäude die Frage auf "Wer kümmert sich um unsere Zukunft? - Die Vereinten Nationen und die Zivilgesellschaft".
Nach Dürrs Auffassung zeichnet sich unsere moderne Gesellschaft durch ein "Lawinen-Syndrom" aus: Alles muss immer größer und schneller werden. Dies müsse auf Dauer unweigerlich in eine Katastrophe einmünden. Gefährdet durch diese Haltung sei aber nicht in erster Linie die Natur, sondern das Überleben der Menschheit: "Die Natur kann ganz gut ohne Menschen leben, aber der Mensch nicht ohne die Natur!"
Wissenschaft und Wirtschaft hält Dürr nicht für fähig, das Problem zu lösen. Es sei vielmehr eine originäre Aufgabe der Politik. Diese habe dafür aber keine geeigneten Strukturen entwickelt.
Parlamente und Regierungen bezeichnete Dürr als "Gegenwartsräte", die nur eine Periode von vier Jahren im Blick hätten. Gerichte seien "Vergangenheitsräte", die Geschehenes anhand vorhandener Regeln bewerten. Es fehlten Zukunftsräte, die politische Entscheidungen auf ihre Zukunftsfähigkeit hin untersuchen.
In der Schweiz sei ein Vorschlag zur Einrichtung von "Zukunftsräten" auf Bundesebene nur knapp verworfen worden. Viele Städte hätten daraufhin solche Gremien eingerichtet. Auch die "Agenda-21-Gruppen" könne man als "Zukunftsräte" betrachten.
Nötig zur Lösung der Zukunftsprobleme sei die Mitwirkung der Zivilgesellschaft in ihrer kreativen Vielfalt: "Wir brauchen die unterschiedlichen Köpfe und Ideen. Die müssen sich nicht einigen, sondern über möglichst vielfältige Vorstellungen diskutieren. Wir brauchen keine Organisation dafür, sondern einen kongenialen Sauhaufen!"
Die Wirtschaft könne zu diesem Wandel wenig beitragen, denn sie überlebe nur, indem sie Kosten externalisiere. Aufhören müsse die "Bankräuber-Mentalität: "Sie brechen mit Schweißgeräten die Tresore der Natur auf und freuen sich, wenn der Wert der Beute den Preis für die Schweißgeräte übersteigt."
Nur so gewinne die Wirtschaft die größte Macht, während die Politiker weitgehend machtlos blieben.
Die notwendige Neuregelung verglich Dürr mit einem Schreibtisch: "Von Tag zu Tag steigt dort die Unordnung. Aber vielleicht am Wochenende kann es geschehen, dass eine ordnende Hand aufräumt."
Zur Herstellung dieser Ordnung bedürfe es kreativer Intelligenz und Zeit. Man müsse kurz innehalten, um zu entscheiden, was weggeworfen werden kann und was nicht.
Die Zukunftsräte müssten diejenigen Wege auszusondern, die eindeutig fatale Folgen haben werden, um dann die begehbaren auszuprobieren. Dabei müsse man auch Irrtümer riskieren. Dabei schreibt Dürr der UNO eine gewichtige Rolle zu. Heute sei sie noch die Organisation der Regierungen, die weitgehend abgehoben von den Interessen der Bevölkerungen agieren. Sie müsse von untern her durch NGOs (Nichtregierungsorganisationen) erneuert werden. Deswegen hat Dürr kürzlich an der Gründung der "WANGO", der "World association of NGOs" mitgewirkt. Sie allein reiche aber nicht aus, die Zukunftsräte müssten vielmehr auf örtlicher Ebene mit der Arbeit beginnen.
Trotz dieser Vorschläge hat Dürr kein Patentrezept parat. Es dränge aber zum Handeln, da die Menschheit den Ast absäge, auf dem sie sitze: "Ich hätte ja nichts dagegen, wenn diejenigen mit dem Ast abstürzten, die daran sägen. Aber leider sitzen da auch viele von uns darauf." So hofft er auf die Überzeugungskraft guter Argumente: "Wenn die Klugen nicht fähig sind, die Dummen von ihrer Dummheit zu überzeugen, dann sind sie nicht klug genug."
04.05.2001 * (FJH)
Sein Einsatz für die Freiheit von Forschung und Lehre ist ihm wichtig. Dafür nimmt er auch persönliche Nachteile in Kauf. Doch gegen den Entzug seiner Prüfungsberechtigung hat der Göttinger Theologieprofessor
Gerd Lüdemann
Rechtsmittel eingelegt. Am Donnerstag (3. Mai) referierte der Wissenschaftler auf Einladung der Humanistischen Union (HU) in Marburg über "Das Unheilige in der Heiligen Schrift
- die dunklen Seiten der Bibel".
Rund 50 Interessierte waren der Einladung des
HU-Ortsverbands Marburg
gefolgt, um den prominenten Kirchenkritiker zu erleben. Der Inhaber eines Lehrstuhls für das Neue Testament an der Universität Göttingen stellte die Forschungsergebnisse vor, die die evangelische Landeskirche veranlasst haben, gegen seine Lehre Einspruch bei Landesregierung und Universitätsleitung einzulegen.
Lüdemann kritisiert die Bibel, deren Texte mitunter unerträgliche Grausamkeiten transportieren und dazu aufrufen. Besonders scharf geißelte er den "Bann" im Alten Testament, der das von Gott auserwählte Volk berechtigte und geradezu aufforderte, andere Völkerschaften mit Kindern und Greisen, Männern und Frauen bis auf den letzten Mann einschließlich ihrer Haustiere abzuschlachten. Wer das als Gottes Wort betrachte, müsse sehr viel Verdrängungsbereitschaft mitbringen.
Auch das errste Gebot im Alten TEstament wie ähnliche Textstellen im Neuen Testament fordern nach Lüdemanns Interpretation dazu auf, Ungläubige oder Andersgläubige zu bekämpfen. Spätestens seit der Aufklärung seien solche Positionen nicht mehr hinnehmbar.
In der Bibel sieht der Theologe eine Sammlung von Texten, in denen Menschen ihre Gottesbilder niedergelegt haben. Mitunter hätten beim Abfassen oder der späteren redaktionellen Bearbeitung von Bibeltexten auch handfeste Machtinteressen eine Rolle gespielt.
In der anschließenden Diskussion mit dem Publikum rieben sich unterschiedliche Haltungen von Atheismus über Kirchenkritik und progressives Christentum bis hin zu gläubiger Anbetung der Bibel als Gottes Wort mit Lüdemanns Erläuterungen. Durchgängig war aber der Respekt vor dem unerschrockenen Eintreten Lüdemanns für seine wissenschaftlichen erkenntnisse.
02.05.2001 * (FJH)
Sie werden immer selbstbewusster. Nach jahrzehntelangem Schattendasein in - mittlerweile bundesweit 2.500 - Hinterhofmoscheen errichten die Anhänger des Islam in Deutschland nun neue Moscheen im traditionellen Stil. In 60 derartigen Gebäuden ruft der Muezzzin schon zum Gebet. Derweil wird nicht nur an Stammtischen über "deutsche Leitkultur" schwadroniert. Diese Entwicklung birgt kulturellen, politischen und religiösen Sprengstoff.
In der Veranstaltungsreihe "Konflikte der Zukunft" referierte die Marburger Theologieprofessorin Ursula Spuler-Stegemann am Mittwoch (2. Mai) über "Unsere Muslime - die besseren Christen?". Nach ihren Ausführungen leben zur Zeit schon drei Millionen Muslime in Deutschland, darunter allein zwei Millionen Türken. 650.000 Anhänger des Islam verfügen über einen deutschen Pass. Schätzungsweise 120.000 von ihnen sind zum Islam konvertiert. Sie fordern ihr verfassungsmäßiges Recht auf freie Religionsausübung ein.
Den Umgang der einheimischen Bevölkerung mit dieser Situation charakterisierte Spuler-Stegemann als abwehreende Überreaktion auf der einen und kritiklose Anbiederung auf der anderen Seite. Scharf geißelte sie in diesem Zusammenhang die Evanngelische Kirche in Deutschland (EKD) und deren Ratspräsidenten Kock, der durch seine Zusammenarbeit mit dem Zentralrat für Muslime in Deutschland diese fundamentalistische Organisation als Ansprechpartner hoffähig gemacht habe. Damit sei er den liberalen Muslimen in den Rücken gefallen, die durch eine Vielzahl islamischer Organisationen hierzulande bevormundet würden.
Als Beispiel hierfür nannte die Theologin die Anweisung der Islamischen Religionsgemeinschaft in Hessen (IRH), die Frauen Reisen von mehr als 81 Kilometern Entfernung - so weit könne eine Kamelkarawane zwischen Morgengrauen und Abenddämmerung gelangen - nur in Begleitung naher männlicher Verwandter gestatten wolle.
Spuler-Stegemann warnte vor den islamischen Organisationen, die in der Bundesrepublik einen Anspruch auf Vertretung der Muslime erheben. Entweder seien sie streng islamistisch orientiert oder Weisungsempfänger ausländischer Regierungen. Im Buhlen um Anerkennung verbündeten sie sich mit den christlichen Kirchen, mit denen sie das gemeinsame Interesse eines missionierenden Religionsunterrichts verbinde.
Wenn allerdings die EKD dazu auffordere, leerstehende Kirchen islamischen Gemeinden als Moschee zu überlassen, dann sähen sich mögliche Nutznießer solcher Umwidmungsaktionen als Erben des "bröckelnden Kolosses" Kirche.
Diskussionsleiter Erhard Gerstenberger vom Fachbereich Theologie der
Philipps-Universität
verwies auf die enge VErwandschaft der drei Weltreligionen Judentum, Christentum und Islam. Kämpferische Seiten gebe es in der Bibel auch. Der Widerspruch zwischen dem "Heiligen Krieg" und dem "paradiesischen Frieden" müsse im Alltag aufgelöst werden. Dies sei durch das Zusammenleben der Menschen und den Respekt vor der Religiösität des Nachbarn möglich und - da die Muslime hier in Deutschland bleiben werden - auf Dauer unerlässlich.
19.04.2001 *
Konflikte: Hochwissenschaftlicher Humbug im Hörsaalgebäude
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31.05.2001 by
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